Tanzkritik

Ritterromantik in der Mehrzweckhalle

Der Tod steht auf der Tagesordnung: Die kanadische Choreografin Crystal Pite erkundet in Assembly Hall mit ihrer Kompanie Kidd Pivot die mythologischen Untiefen eines scheinbar banalen Vereinstreffens.

Wie kommt eine Gruppe zum Konsens? Das ist im EU-Parlament und basisdemokratischen Food-Coops schon der Knackpunkt. Erst recht schwer ist es für acht Mittelalter-Nerds, die ihre Freizeit einem Verein zur Durchführung historischer Reenactments widmen.

Bei der Jahreshauptversammlung des Benevolent and Protective Order navigieren die überengagierten Vereinsmeier den Dschungel an kryptischen Statuten mit Gusto. Der Zusammenschluss mit dem größenwahnsinnigen Namen hat ebenso große Pläne für die Zukunft: Obwohl das Interesse an dem nischigen Hobby ebenso wie das Budget schwindet, soll das Quest Fest für neuen Schwung sorgen. Meinungsverschiedenheiten gibt es also genug. Nur das einfache Mitglied Dave ist fehl am Platz. Er ist das Stimmvieh, und gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt jeder Abstimmung: Ohne ihn ist das Gremium nicht beschlussfähig – eine Rolle, die ihm zum Verhängnis werden soll.

Tanztheater als Lip-Sync-Challenge

Pite inszeniert die leidenschaftlichen Anhänger des Reenactments als Reenactment. Mundbewegung und Gebärden der Tänzer:innen sind perfekt auf die Voice-Over-Dialoge von Pites häufigem Kollaborateur, dem Theaterautor Jonathon Young, abgestimmt. Die grotesk überzeichnete Gestik findet Humor in der trockenen Bürokratie. Die Assembly Hall als Treffpunkt knüpft an das popkulturelle Universum amerikanischer Teenie-Fernsehserien an: Wo, wenn nicht im Turnsaal einer High School, spielt sich sonst so viel Drama ab? Nun, vielleicht auf der Bühne: Unter dem Basketballkorb lugt nämlich eine kleine Guckkastenbühne als Tor in eine fantastisch verklärte Vergangenheit hervor.

Die Zeitstränge der Handlung greifen wie ein Loop ineinander: Träumt sich Dave während der öden Besprechung in eine Welt voll ritterlicher Abenteuer – ein Impuls, der wohl niemandem fremd ist, der regelmäßig an Meetings teilnehmen muss. Spielt er beim Quest Fest den einzigen Helden, der einer rätselhaft schönen Maid helfen kann? Hat es ihn tatsächlich in eine sagenhafte Vergangenheit verschlagen, in der er wie Parzival aus König Artus’ Tafelrunde daran scheitert, dem leidenden König die entscheidende Frage zu stellen?

Alles führt zurück zum Verein, der seit Jahren die Augen vor den eigenen Auflösungserscheinungen verschließt. Immer wieder vertagt er die Abstimmung über die Auflösung des Clubs. Es scheint an Dave, den Weg aus dieser Misere zu ebnen; gleichzeitig wird er der vereinsinternen Realitätsverweigerung geopfert.

Nur Ballett ist eines Königs würdig

Pite ist eine Meisterin der Gegensätze: Sie stellt Narrativ neben Tanz, expressive Gestik neben komplexe Slow-Motion-Arrangements. Ernst und Komik gehen Hand in Hand: Ritterliche Kampfszenen driften zu Tschaikowski-Klängen ins Lächerliche ab, der beleaguered King aus der mittelalterlichen Fantasiewelt tanzt natürlich als einziger klassisches Ballett. Seelenvolle Duette holen die Romantik in den zeitgenössischen Tanz zurück.

Die perfekte Synchronisation des Tanzes zum eingespielten Text ist bereits in anderen Stücken Pites zu finden. Besteht die Gefahr, dass dieser Kniff zum Gimmick wird? In Assembly Hall geht der Mix aus Popkultur, Mittelalterromantik und Gruppentherapie auf: In der eineinhalbstündigen Tour-de-Force überzeugt das Ensemble mit tänzerischer Eindringlichkeit und krassem Durchhaltevermögen.

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