Kommt die Fiktion der Fiktion der Realität näher?
Nichts und niemand in diesem Stück besitzt eine Eindeutigkeit. Und gerade das macht die Sogwirkung und die Klugheit von „Assembly Hall“ im Festspielhaus St. Pölten aus.Nun, zumindest das Bühnenbild scheint doch ganz klar zu sein, oder? Eine leicht angeranzte Veranstaltungshalle, wie man sie im anglikanischen Raum wohl in jeder Kleinstadt findet: Hier treffen sich die Briefmarkensammler, hier gibt’s den Charity-Flohmarkt, die Cheerleader proben für die neue Saison und die Theatergruppe...
Tatsächlich ist es eine achtköpfige Reenactment Gruppe, die hier jedes Jahr eine historische Begebenheit aus dem Mittelalter darstellt. Aber die Zeiten sind schlecht, und der Verein droht gleich hier und jetzt, nach fast hundertjährigem Bestehen, auseinanderzufallen.
Aber was ist das? Die Darsteller:innen „spielen“ ihre Stimmen nur, die in Wahrheit über die Soundanlage eingespielt werden. Ihre Bewegungen sind dabei so comichaft überzeichnet, dass es eine Weile braucht, bis man sich in diese „Realität“ hineinkippen lässt. Aber schon geht es weiter: Welche Geheimnisse teilt die Gruppe miteinander, aber nicht mit uns? Was passiert hinter dem schäbigen Theatervorhang, der die Bühne des Veranstaltungssaals von „unserer“ Bühne trennt. Und wenn der Vorhang aufgeht: Sind die mittelalterlichen Szenen (vom Verein) gespielt oder (nun ja) „echt“ alt? Warum werden Menschen zu Krähen, in die sich andere Menschen verlieben? Und welche Rolle hat der langweilige Dave, sobald er den Ritterhelm aus Pappe aufsetzt?
Crystal Pite und Jonathan Young, beide aus Kanada, haben sich bereits zum dritten Mal zusammengetan, um Tanz (Pite) und Text (Young) miteinander zu verweben. Sie liefern uns mit „Assembly Hall“ ein Märchen für Erwachsene, das in 90 Minuten einen ganzen Kosmos an Ideen liefert, in den wir uns gern fallen lassen. Bühnenbild, Licht, Musik, Sounddesign, Kostüme unterstützen kongenial diese magische Tour.
Aber ganz besonders muss man die acht Tänzer:innen (nein, Performer:innen) von Pites Company „Kidd Pivot“ hervorheben, die es nicht dabei bewenden lassen, begnadet gut tanzen zu können, sondern durch ihre Spielfreude den acht Charakteren des Mittelalter-Vereins ihr Eigenleben geben. Der begeisterte Applaus für ihre Leistung war wirklich verdient.
Und, hat das Märchen eine Moral? Vielleicht diese: Manche Dinge müssen einfach getan werden, egal ob es im Moment gerade sinnvoll und richtig erscheint oder nicht. Und diese: Manche Dinge müssen in einer Gemeinschaft getan werden, egal wie unterschiedlich ihre Mitglieder sind. Dave hatte das – im Moment seines Todes – erkannt, und vielleicht merken wir es irgendwann auch.
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