Tanzkritik

Die Oper “Justice” von Milo Rau: aufrüttelnd, vielschichtig

Milo Rau ist dafür bekannt, dass er Ungleichheiten im globalen Kontext in seinen Stücken verarbeitet. So auch im aktuellen Werk mit der Oper „Justice“

Bereits das Bühnenbild zeigt einen auf dem Dach liegenden Lastwagen, dieser nimmt vorweg, dass ein dramatisches Ereignis das Geschehen bestimmt. Zur Vorgeschichte: In der Demokratischen Republik Kongo wird ein Großteil des weltweit benötigten Kobalts unter menschenunwürdigen Bedingungen von Konzernen wie dem Schweizer Unternehmen Glencore abgebaut. Für die industrielle Verarbeitung ist Schwefelsäure notwendig. Bei einem der Tankertransporte mit Schwefelsäure kommt es im Jahr 2019 in der Ortschaft Kabwe, an einem Markttag, zu einem schweren Unfall.

Einundzwanzig Menschen sterben unter qualvollen Bedingungen. Die Überlebenden leiden unter den Folgeschäden in Form von verlorenen Gliedmaßen und Verätzungen. Zusätzlich entstehen Umweltschäden durch die sich verbreitende Säure. Ein Hin- und Herschieben von Verantwortung und Korruption ist die Folge, sodass die Angehörigen der Toten und die Überlebenden bis heute unzureichende Entschädigungen erhielten.

„Justice“ beginnt mit einem Wohltätigkeitsdinner, zu dem Gäste aus dem Kongo und dem internationalen Umfeld geladen sind. Ein Schweizer Rohstoffunternehmen und eine NGO sollen ein Schulprojekt initiieren. In stetigen Rückblenden in das Jahr 2019 stehen das Leiden und die nicht aufgearbeiteten Traumata der Überlebenden im Mittelpunkt. Handy-Videos dokumentieren den grauenhaften Unfall. Dem Autor Fiston Mwanza Mujila kommt dabei eine zentrale Rolle zu: Er ist der Librettist des Stücks und kennt das von Kolonialismus und der Ausbeutung geprägte Land sehr gut, stammt er doch selbst aus dem Kongo. Zu Beginn jedes Aktes tritt er als Moderator auf, der eine kurze Einführung über die insgesamt 105 Minuten hält.

Der kongolesische Countertenor Serge Kakudji singt die Arie des Mannes, dem nach dem Unfall beide Beine amputiert wurden. Parallel dazu zeigt die Videoleinwand den realen Menschen in Kabwe in Nahaufnahme, der dazu gedrängt wurde, eine lächerliche Abfindung zu akzeptieren. Cyrielle Ndjiki Nya singt die Arie der Mutter eines toten Mädchens. Auch hier sehen wir ein Video wie die echte, anklagende Mutter unweit des Unfallorts über das Sterben ihrer Tochter berichtet. Wo bleiben die Schuldfrage und die Gerechtigkeit? Eine korrupte Justiz, die Ausbeutung der Ressourcen, Umweltschäden, keine nachhaltigen Entwicklungen und keine Lösungen dominieren das Land. Das Wohltätigkeitsdinner wird so Stück für Stück zu einem Requiem für die Opfer des Unglücks. 

Der spanische Komponist Hèctor Parra schuf dabei eine musikalische Sprache, die eindringlich die Grenzen verwischt zwischen Schmerz, der Realität im Gerichtssaal und der Verschleierung von Tatsachen. Bei der österreichischen Erstaufführung spielt das Tonkünstler-Orchester, Titus Engel dirigiert. Trotz der Schwere des Themas bringt das virtuose Gitarrensolo von Kojack Kossakamvwe eine gewisse Leichtigkeit zu Beginn jedes Aktes auf die Bühne. Am Schluss fordert der Chor des Grand Théâtre des Genève Gerechtigkeit. 

Die Oper „Justice“ ist ein Beispiel für das Arbeitsprinzip von Milo Rau. Er sieht das Theater als Ort, an dem globale Ungleichheiten und politische Verflechtungen diskutiert werden können. Ein aufrüttelnder und vielschichtiger Opernabend.

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