Das Trauma sitzt an der Festtafel
Die Verätzungen besingen, den Kolonialismus zum Klingen bringen? Milo Raus und Hèctor Parras Oper „Justice“ zeichnet die fatalen Folgen eines Säureunfalls im Kongo nach.Mit starkem Tobak eröffnete „Justice“ im Festspielhaus St. Pölten die Tangente, das neu geschaffene „Festival für Gegenwartskultur“. Der Schweizer Regisseur Milo Rau seziert im Kleinen die Konsequenzen des Unfalls eines Säuretankers im kongolesischen Dorf Kabwe, um dem Publikum einen Makrokosmos der Ungerechtigkeiten vor Augen zu führen: Armut und Ausbeutung des globalen Südens, und die armseligen Antworten der Verantwortlichen in Politik und Großkonzernen.
2019 kippte in Kabwe ein LKW, der Schwefelsäure zu den ertragreichen Kobaltminen der Provinz Katanga transportieren sollte, nach einer Verkehrskollision um. Unter sich begrub er mehr als 20 Menschen. Die auslaufende Säure zog eine Spur der Verwüstung durch die Dorfgemeinschaft. Auf juristischem Weg erfuhren die Opfer bisher keine Gerechtigkeit; von dem global tätigen Konzern mit Sitz in der Schweiz, der die Minen betreibt, wurden sie mit Kleingeld abgespeist.
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Ein Lehrstück im Unterrichtsfach Neokolonialismus
Rau verlegt die Verhandlung von Recht und Unrecht in ein multimediales Kunstprojekt. Alles ist: Based on a true story. Das unterstreicht Librettist Fiston Mwanza Mujila, der in der gleichnamigen Rolle auch gleich das Publikum durch den Abend führt. Sollte man das kurz vergessen, erinnert eine Leinwand, die über der Bühne thront, daran. Auf ihr werden Aufnahmen der Opfer aus Kabwe eingespielt, teils von verstörender Eindringlichkeit, dann wieder mit der Ästhetik von TV-Spendenaufrufen zur Hauptsendezeit.
Parallel dazu wandelt sich auf der Bühne ein Dinner zu einer Trauerfeier. Eigentlich wollte der Konzern-CEO die Eröffnung einer Schule feiern, die Jahre nach dem Unfall einen Schlusspunkt unter das Grauen setzen soll. Doch das Trauma sitzt mit am Tisch: In fünf Akten wird das Panorama der Zerstörung wieder aufgerollt.
Während das Videomaterial die Einzelschicksale beleuchtet, sind die handelnden Figuren reine Schablonen: Der Unfall als spezifischer Knotenpunkt individuellen und kollektiven Leids wird zu einer verallgemeinernden Schulstunde im Fach Neo-Kolonialismus. So beklagt auch der kongolesische Countertenor Serge Kakudji sein Los nur unter dem Rollennamen „Der Junge, der seine Beine verlor”. Willard White kämpft als „Der Priester” damit, dass der Unfall auch Kultur und Ritus korrumpiert hat.
Die Opern-Doku zur Doku-Oper
„Justice“ positioniert sich zwischen Kunst und Aktionismus: Auf der Homepage des Grand Théâtre de Genève, dem Spielort der Uraufführung, gibt es eine Art Making-of der Oper zu sehen. Eine überlange Paneldiskussion am Premierenabend sollte weiter sensibilisieren, im Foyer lagen Flyer für eine Charity-Aktion auf, für die man per QR-Code spenden kann.
Beim Publikum löste „Justice“ jedenfalls Begeisterungsstürme aus. War es der Umgang der Regie mit dem Thema, die Künstler:innen auf der Bühne oder der fantastische Gitarrist Kojack Kossakamvwe, die besonders beeindruckten? Mit welcher Metrik soll diese Oper eigentlich bemessen werden? Bei „Justice“ könnte man sogar die Aufrufe der Spendenaktion als Erfolgsparameter heranziehen.